Dezentralisierte Demonstrationsfabrik mit Automatisierungskonzept nach Industrie 4.0

Prof. Dr.-Ing. Marcus Kurth, HTWG Konstanz / Modellfabrik Bodensee

"Die Datenerfassung und Speicherung findet dabei dezentral an den einzelnen Arbeitsstationen selbst statt, d. h. in einer Cloud. Jede Arbeitsstation ist hier mit einem myRIO ausgestattet. Die Programmierung erfolgt mit LabVIEW – auch in Kombination mit Arduino Boards."

- Prof. Dr.-Ing. Marcus Kurth, HTWG Konstanz / Modellfabrik Bodensee

Die Aufgabe:

In dem länderübergreifenden Projekt i4Production werden drei Modellfabriken miteinander vernetzt, auf Basis eines hochintegriertem, offenen und standardisierten Automatisierungskonzept vom Shopfloor bis hin zu einem Business Ecosystem. Ziel ist es, die gesamte Lieferkette transparent darzustellen und system-dynamische Effekte, wie beispielsweise den Bullwhip-Effekt, zu verhindern.

Die Lösung:

Das Konzept baut auf einem nach Lean-Kriterien optimierten Produktionsprozess auf. Die Datenerfassung und Speicherung findet dezentral an den einzelnen Arbeitsstationen selbst statt welche jeweils mit einem NI myRIO ausgestattet sind. Nur bei Bedarf werden die wirklich benötigen Daten nach dem PULL Prinzip von einem überlagerten MES mit der Hilfe von NI TestStand / Virinco skyWATS gezogen und dort weiter verarbeitet.

Autor(en):

Prof. Dr.-Ing. Marcus Kurth - HTWG Konstanz / Modellfabrik Bodensee
Prof. Dr.-Ing. Carsten Schleyer - HTWG Konstanz / Modellfabrik Bodensee
M. Eng. Sebastian Potzel - HTWG Konstanz / Modellfabrik Bodensee

 

Kurzfassung

Durch die Einführung cyber-physischer Systeme in der Produktion ändern sich Arbeitsbedingungen und Prozesse sowie Geschäftsmodelle. In der Praxis kann eine wachsende Diskrepanz zwischen großen und kleinen bzw. mittelständischen Unternehmen beobachtet werden. Um diese Diskrepanz zu überbrücken, wird eine Modellfabrik vorgestellt, die Unternehmen eine Plattform zum Probieren bietet, die Möglichkeit zur Ausbildung von Studenten und Mitarbeitern schafft und Beratungsangebote bereithält. Am Beispiel einer dezentralisierten Demonstrationsfabrik wird ein hochintegriertes, offenes und standardisiertes Automatisierungskonzept vom Shopfloor bis hin zu einem Business Ecosystem präsentiert. Eine Suchmaschine dient als Basis für ein Fertigungsmanagementsystem (MES). Die Informationsverarbeitung erfolgt nach dem Pull-Prinzip, welches bei einem nach Lean optimierten Prozess bereits Anwendung findet.

 

 

Einleitung

In Zusammenarbeit mit zwei weiteren Hochschulen in Österreich und der Schweiz sowie einem Logistikpartner wird aktuell im Rahmen eines Forschungsprojekts – i4Production – der Internationalen Bodensee-Hochschule IBH und der Internationalen Bodenseekonferenz (IBK) eine Produktionslinie als dezentralisierte, grenzüberschreitende Produktionslinie aufgebaut (Bild 1). Ziel ist es, die gesamte Lieferkette transparent darzustellen und systemdynamische Effekte, wie beispielsweise den Bullwhip-Effekt, zu verhindern.

 

Internationale Musterfabrik Industrie 4.0 (i4Production)

Das Ziel ist die Entwicklung und Simulation einer international vernetzten Prozesslandkarte 4.0 auf Basis dreier vernetzter Modellfabriken. In einem gemeinsamen, standardisierten Automatisierungskonzept wird in der vernetzten Modellfabrik ein cyber-physisches System (CPS) in Form eines Modellfahrzeugs produziert, das durch den Kunden in diversen Varianten zusammengestellt oder individuell konstruiert werden kann.

 

Elektronische Komponenten werden an der NTB in Buchs produziert, die Produktion mechanischer Komponenten sowie die kundenindividuelle Konstruktion erfolgen an der FH Vorarlberg und ebenfalls an der NTB. Die Zulieferteile werden in der Produktionsstraße der HTWG Konstanz endmontiert. Das Forschungsprojekt zeigt als Erkenntnis, welche Maßnahmen von den Unternehmen erwartet werden, um die Produktion zukunftssicher, effizient und produktiv zu gestalten und den Industrie-4.0-Ansprüchen gerecht zu werden.

 

Automatisierungskonzept nach Industrie 4.0

Für die Umsetzung eines gemeinsamen optimalen Produktionsziels im Sinne von Hersteller und Kunde ist darüber hinaus die Ontologie entscheidend, d. h. die Datenorganisation und deren Kommunikation.

 

Zur Umsetzung der Anforderungen an das Automatisierungssystem für diese Prozesslandkarte sind eine Vielzahl von Rahmenbedingungen zu beachten: Echtzeitfähigkeit, Zuverlässigkeit und Redundanzen, Security und vieles mehr. Die übergeordneten Funktionen werden von einem überlagerten Business Ecosystem gesteuert, das übergeordnete Daten sammelt und verwaltet sowie Aufträge plant.

 

Die Datenerfassung und Speicherung im Produktionsprozess findet dezentral an den einzelnen Arbeitsstationen bzw. direkt an Geräten wie Aktoren und Sensoren statt, die Ethernet-basiert vernetzt sind. Bei Bedarf werden die benötigten Daten nach dem PULL-Prinzip gezogen, genauso wie im Prozess auch der Materialfluss organisiert ist. Mithilfe einer Suchmaschine können vorhandene dezentrale Datenbanken schnell durchsucht und relevante Datensätze ermittelt werden. Auf Basis dieser Auswertung erfolgt die Datenauswertung bzw. die standardisierte Datenanalyse und -visualisierung.

 

Für die M2M-Kommunikation wird das schlanke und offene Nachrichtenprotokoll MQTT [3] eingesetzt. MQTT zeichnet sich durch Zuverlässigkeit und einen sparsamen Umgang mit Bandbreite und Ressourcen aus. Das Protokoll arbeitet nach dem Publish-Subscribe-Verfahren. Sender und Empfänger kommunizieren nicht direkt miteinander, sondern die Kommunikation erfolgt über einen Broker, welcher die Zustellung der Nachricht übernimmt. Der Subscriber (auch Consumer genannt) teilt dem Broker mit, dass er an allen Nachrichten zu einem Thema interessiert ist. Sobald der Publisher (auch Producer genannt) nun eine Nachricht in diesem Topic sendet, wird diese automatisch an den Subscriber weitergeleitet. Mehrere Consumer können eine Subscription auf denselben Topic haben, somit übermittelt der Broker jeweils eine Kopie an alle am Topic beteiligten Subscriber. Im Gegensatz zu Protokollen wie HTTP arbeitet das MQTT-Verfahren ereignisorientiert. Ein Client muss somit nicht ständig anfragen, ob neue Daten vorliegen. Der Consumer wird vom Broker automatisch informiert, wenn neue Daten zum jeweiligen Topic vorliegen.

 

Der zunehmende Automatisierungsgrad sowie die voranschreitende Vernetzung von Systemen untereinander führen zu hohen Datendurchsätzen im Datenspeicher. Relationale Datenbanken wie SQL-Datenbanken werden bei datenintensiven Applikationen, wie z. B. Indizierung großer Datenmengen, schnell zu einem Engpass. Datenbanken, die einen nicht-relationalen Ansatz verfolgen – NoSQL-Datenbanken –, bieten dagegen eine höhere Leistungsfähigkeit, Skalierbarkeit oder Ausfallsicherheit. Sie können im Gegensatz zu relationalen Datenbanken mit vielen Schreib- und Leseanfragen umgehen. Außerdem benötigen NoSQL-Datenbanken keine festgelegten Tabellenschemata. Deshalb werden sie für dieses suchmaschinenbasierte MES eingesetzt. Bild 2 zeigt das Schema des eingesetzten suchmaschinenbasierten, dezentralen MES.

 

Die Suchmaschine, die gegebenenfalls auf einer Indizierungsdatenbank besteht, kann dann um eine Blockchain mit relevanten Produktionsdaten aus der dezentralen Datenerfassung erweitert werden. Mithilfe eines Industrial Data Space kann diese wiederum um einen Marktplatz erweitert werden. Damit ergeben sich neue Möglichkeiten für Geschäftsmodelle, zum Beispiel als Handelsplatz für Rohstoffe, Materialien oder Produkte, über den Verträge, Bestellungen und Bezahlungen sicher abgewickelt werden können.

 

Zusammenfassung

In dem länderübergreifenden Projekt i4Production werden drei Modellfabriken miteinander vernetzt. Die Endmontage des intelligenten Modellfahrzeugs als CPS und als Produkt der dezentralen Produktion findet an der HTWG Konstanz statt. Der Kunde kann das Modellfahrzeug aus einer großen Auswahl an Ausstattungsvarianten zusammenstellen, aber auch konstruktiv in die Produktentstehung eingreifen und somit das Modellfahrzeug individuell konstruieren und konfigurieren.

 

Die Herausforderung der Endmontage ist die Synchronisation der stark unterschiedlich schnellen Fertigungsschritte. Zur Synchronisation der Fertigung, zur Vermeidung von systemdynamischen Effekten in der Lieferkette und zur Schaffung einer gemeinsamen Datenbasis, die für neue Geschäftsmodelle – z. B. basierend auf Blockchains – genutzt werden kann, wird ein hoch standardisiertes Automatisierungskonzept eingesetzt. Das Konzept baut auf einem nach Lean-Kriterien optimierten Produktionsprozess auf. Die Datenerfassung und Speicherung findet dabei dezentral an den einzelnen Arbeitsstationen selbst statt, d. h. in einer Cloud. Jede Arbeitsstation ist hier mit einem myRIO ausgestattet. Die Programmierung erfolgt mit LabVIEW – auch in Kombination mit Arduino Boards. Nur bei Bedarf werden die zur Auswertung wirklich benötigten Daten von den myRIO an ein überlagertes Manufacturing Execution System nach dem PULL-Prinzip gezogen und dort weiter verarbeitet. Diese Art der Datenerfassung und Speicherung arbeitet ressourcenschonend und bietet zugleich die Möglichkeit, Massendaten im Shopfloor zu erfassen und zu visualisieren. Zudem besteht aufgrund der vielen kleinen, dezentralen Netzwerke ein hohes Maß an Sicherheit.

 

Informationen zum Autor:

Prof. Dr.-Ing. Marcus Kurth
HTWG Konstanz / Modellfabrik Bodensee
Alfred-Wachtel-Straße 8
Konstanz 78462
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Tel: +49 (0)75 31206-9037
Fax: +49 (0)75 31206-9037
Marcus.Kurth@htwg-konstanz.de

Bild 1: Business Ecosystem
Bild 2: Suchmaschinenbasiertes dezentrales MES